05.03.12

Kriegskind Ali "wohnt" jetzt in Bethanien

Junge aus Afghanistan muss in Deutschland operiert werden

Auf die Tür ist ein großer Pandabär gemalt. Pandabären gibt es in Afghanistan nicht, aber Ali fühlt sich in dem Zimmer der Kinderklinik Bethanien trotzdem zu Hause. Für die nächsten Wochen wird der etwa neunjährige Junge hier medizinisch betreut werden. Mit Hilfe des Friedensdorfs in Oberhausen ist Ali zur medizinischen Behandlung nach Bethanien gekommen. "Der Junge kam mit einem Problem am linken Unterschenkel und musste dringend operiert werden", berichtet Chefarzt Dr. Christoph Chylarecki von der Orthopädie des Krankenhauses. In mehrere Kliniken hatte das Oberhausener Friedensdorf Ali seit der Ankunft in Deutschland im vergangenen Sommer schon gebracht. Doch die konnten dem Jungen nicht helfen. Mehrmals war Ali ohne eindeutige Diagnose wieder ins Friedensdorf zurückgebracht worden.

Weil Dr. Chylarecki und sein Team über viel Erfahrung mit Kindern aus Kriegsgebieten verfügt, brachte das Friedensdorf Ali nun nach Moers, wo dann alles recht schnell ging. Nachdem die Diagnose feststand, wurde umgehend der OP-Termin anvisiert. "Wir wollen, dass Ali soll so schnell wie möglich wieder gesund wird", so der Chefarzt. Zum Glück habe der Junge keine Kriegsverletzung, wie sich in Moers herausstellte. "Meist wissen wir nicht, woher die Verletzungen bei den Kindern genau stammen", weiß Dr. Chylarecki. Die meisten afghanischen Kinder, die nach Deutschland kommen, leiden an frischen oder jahrelang verschleppten Kriegsverletzungen. Ali wurde von einem Auto angefahren, wie der Junge den Ärzten berichtet. Eigentlich für Mediziner keine große Sache. "Doch selbst solche weniger schweren Verletzungen können in Afghanistan angesichts des fehlenden Gesundheitswesens gar nicht oder nur mit wenig Erfolg behandelt werden", weiß der Chefarzt aus langjähriger Erfahrung. So wird aus weniger schweren Verletzungen durch ungenügende Behandlung in den Heimatländer nicht selten ein ernstes Problem.

Seit mehr als drei Jahrzehnten schon werden zwischen zwei und vier Kriegskinder pro Jahr in Bethanien versorgt. Immer wenn afghanische Friedensdorf-Kinder in die Moerser Klinik kommen, ist Schala Feltes als ehrenamtliche Betreuerin dabei. Die frühere Krankenschwester aus Rumeln ist mit ihrer ansteckenden Herzlichkeit eine Seele von Mensch. Sie bereut viele Friedensdorf-Kinder in der Moerser Kinderklinik, fährt aber auch in Duisburger Krankenhäuser. Als gebürtige Afghanin kennt Schala Feltes die Schwierigkeiten, die die Kinder in den ersten Tagen in Deutschland haben. "Die kulturellen Unterschiede zwischen beiden Ländern sind sehr groß", sagt sie. Und damit meint sie nicht das große Thema Islam und Christentum, sondern die ganz einfachen Dinge und scheinbar selbstverständlichen Dinge des Lebens. "In Afghanistan ißt man beispielsweise traditionell mit der rechten Hand. Ich zeige den Kindern hier, wie man mit Besteck umgeht, das sie nicht kennen. Ich erkläre ihnen, wozu Lichtschalter da sind und warum bei uns in Deutschland in den Badezimmern Tag und Nacht fließend Wasser aus der Wand kommt. Auch das kennen die Kinder nicht, wenn sie aus Dörfern in den afghanischen Bergen kommen."

Da Schala Feltes die gleiche Sprache wie die Kinder spricht, ist schnell Vertrauen gefasst. So war es auch, als Ali in Bethanien eintraf. "Heimweh und schon wieder ein neues Krankenhaus - da gab es natürlich erst einmal ein paar Tränen", berichtet Kinderkrankenschwester Helene Neumann von der Kinderstation. Aber die verschwanden schnell, als Schala Feltes in der Tür stand und den Jungen akzentfrei in seiner Muttersprache begrüßte. "Bist du wirklich Afghanin?", fragte Ali mit großen Augen die agile, seit mehr als vierzig Jahren in Duisburg lebende Kabulerin. Schon am Ende des ersten Besuchs bat der Junge darum, seine Besucherin künftig als Mutter anreden zu dürfen - eine hohe Respektsbezeugung in der afghanischen Kultur.

Seiner Duisburger Ersatz-Mutter erzählte der Junge inzwischen viel von seiner Familie, die in der zentralafghanischen Provinz Daikundi lebt. Der Vater sei Schneider, die Mutter arbeite auf dem Feld. Die Familie mit insgesamt vier Kindern ernähre sich durch eigene Landwirtschaft. "Wir haben zwei Kühe und viele Schafe", sagt der Junge. Die Familie lebe in einem Haus mit Garten, elektrischen Strom gibt es nur etwa ein Mal im Monat. Jahrelanger Krieg und Bürgerkrieg in Afghanistan wirken sich auf nahezu alle Bereiche des Alltags aus. Schulen gibt es in Alis Dorf nicht, lediglich die Moschee bietet eine Art Ersatzunterricht. "Wir lesen den Koran und sprechen über die Frage, warum wir Menschen auf der Erde sind", sagt Ali. Ein Gesundheitswesen ist praktisch nicht vorhanden. Eines Tages sei der Arzt einer Hilfsorganisation ins Dorf gekommen und habe ihn untersucht. Ali wurde zum Roten Kreuz ins rund 500 Kilometer entfernte Kabul gebracht - für den Jungen war das schon fast eine Weltreise. Eine Operation in Kabul brachte keinen Erfolg. So kam er schließlich nach Moers.

"Er kam mit Windpocken, die wir erst kurieren mussten, bevor operiert werden konnte", erzählt Kinderkrankenschwester Helene Neumann. Ali durfte deswegen in den ersten Tagen sein Zimmer nicht verlassen und nicht mit den anderen Kindern spielen. "Da hat er sich natürlich ziemlich einsam gefühlt und oft sehnsüchtig nach den Schwestern geklingelt", berichtet die Krankenschwester. Zum Glück wuselt seit Tagen das gesamte Pflege- und Erzieherinnenteam um Ali herum. Vorlesen, Erzählen, Basteln und Zeit zum Kuscheln kommen so nicht zu kurz. Es waren auch die Schwestern, denen auffiel, dass der Junge mit den Augen Schwierigkeiten zu haben schien. Der Augenarzt fand heraus, dass Ali extrem stark kurzsichtig ist, dazu kommt eine Hornhautverkrümmung. "Der arme Junge konnte noch nie im Leben richtig sehen", sagt Helene Neumann. Ob der Junge deshalb in seiner Heimat mit dem Auto zusammenstieß? In den nächsten Tagen wird Ali die erste Brille angepasst werden und er wird Deutschland mit buchstäblich ganz neuen Augen erleben.

 

Pressefoto: Zu Hause im Panda-Zimmer der Kinderklinik: Kriegskind Ali aus Afghanistan mit Kinderkrankenschwester Helene Neumann (li.) sowie seiner deutsch-afghanischen Ersatz-Mutter Schala Feltes (re.), die den Jungen in Deutschland ehrenamtlich mitbetreut.